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Zerstörte Hoffnungen

Zerstörte Hoffnungen Vor 50 Jahren: Ende des „Prager Frühlings“ in Cheb

Zerstörte Hoffnungen

Vor 50 Jahren: Ende des „Prager Frühlings“ in Cheb

Nach dem II. Weltkrieg geriet die Tschechoslowakei bereits im Jahre 1948 unter kommunistische Herrschaft. Die Menschen fühlten sich im „sozialistischen Arbeiterparadies“ wie Untertanen eines vom russischen „Brudervolke“ beherrschten Kolonialstaates.

In der Stadt Cheb, die noch vor drei Jahren Eger hieß, lebten die neuen Bewohner nun ganz nahe am „Eisernen Vorhang“. Am äußersten Rande des Sowjetimperiums hatten sie das Gefühl, am Ende der Welt zu sein.

Zwanzig Jahre später brachte der „Prager Frühling“ für kurze Zeit die Erwartung auf Besserung der Lebensbedingungen. Einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ – so hatte sich Alexander Dubček, Erster Sekretär der Kommunistischen Partei, die Zukunft des Landes vorgestellt. Doch in der Nacht vom 20. auf den 21. August 1968 drangen Truppen der Warschauer-Pakt-Staaten in die ČSSR ein und zerschlugen alle Hoffnungen.

Auch in Cheb kam der Überfall plötzlich und unerwartet, denn die russischen Panzer waren bereits in der DDR stationiert und fuhren vom Norden über die Grenze.

Erstes Ziel in Cheb war die Kaserne. Sie wurde von den Panzern umstellt, die Kanonenrohre drohend auf das Gebäude gerichtet. Dies konnte niemand verstehen, da diese Kaserne doch als Grenzsicherung gegen den kapitalistischen Westen galt. Rechneten die Sowjets mit einer Kampfbereitschaft der tschechoslowakischen Armee?

Danach besetzte man das Rathaus, den Bahnhof und das Postamt. Alle Telefonverbindungen wurden unterbrochen. Jiři R. meint, dass man damit die Organisation eines Widerstandes verhindern wollte.

Der Überfall kam so überraschend, dass die Leute an einen Krieg glaubten. Anna V. erinnert sich: „In der Nacht kam meine erschrockene Mutter und sagte, dass der Krieg beginnt, überall sind die Panzer. Zdeňka und ich fragten nur: ‚Die Deutschen?‘ – ‚Nein, die Sowjetischen!‘… Wir weinten sehr, wir verstanden das gar nicht, weil bisher wir die Sowjetischen für unsere Brüder hielten, wie wir in der Schule lernen.“

Man hoffte auf ein militärisches Eingreifen des Westens, hatte aber auch Angst davor, dass dann der III. Weltkrieg beginnen würde. Bald jedoch hatte man den Eindruck, dass Westeuropa sehr gleichgültig die russische Invasion hinnahm und man erinnerte sich an das Münchner Abkommen im Jahre 1938, für die Tschechen der „Münchner Verrat“ durch England, Frankreich und Italien.

Obwohl man die Panzer damit nicht aufzuhalten konnte, stellte man Lastwägen, Kisten und andere Hindernisse auf die Straßen. Wegweiser wurden verdreht und Straßenschilder entfernt.

Auf Schaufensterscheiben, Fahrzeugen, Bretterzäunen protestierte man gegen die Besetzung: „Es lebe die Freiheit und Dubček! – Wir wollen keine erzwungene Regierung! – Schert Euch nach Hause, wir wollen die Freiheit! – Russen go home! – Russen, niemals werden wir das vergessen! – 1939-1968 = UdSSR. Freiheit für die ČSSR!“ Dazu war auf einer Zeichnung der Sowjetstern mit dem Hakenkreuz zu sehen. Ein verzweifelter Kommentar lautete: „6 Jahre haben wir auf Euch gewartet. 100 Jahre werden wir dies bedauern.“

Spöttisch nannte man die besseren Lebensverhältnisse in Tschechien als den wahren Grund für die Invasion: „Die Russen sind gekommen und stehlen uns die Hühner und Gänse.“ Eine andere Aufschrift lautete: „Borschtsch schmeckt nicht gut“.

Mit bissigen Karikaturen gab man den sowjetischen Militärs zu verstehen, dass sie nicht willkommen waren. Viele Aufschriften wandten sich in russischer Sprache direkt an die Soldaten: „Lenin wach auf! Breschnew ist verrückt geworden,“ war ganz groß vor dem Rathaus zu lesen.

Die mutigen Proteste der Bürger konnten aber das Gefühl der Ohnmacht und der Verzweiflung nicht verbergen. Die Propagandalosung „Mit der Sowjetunion auf ewige Zeiten!“ hatte man früher ironisch mit dem Zusatz versehen: „… aber keinen Tag länger!“ Nun waren alle Hoffnungen völlig zerstört. Die noch sehr junge Hedvika D. sah, wie ein Mann, den sie als stark und unerschütterlich kannte, verzweifelt zu weinen begann. Erst jetzt begriff sie die Tragweite des politischen Geschehens: „Ich kann das nie mehr vergessen.“

Die Propaganda behauptete, die Sowjets seien gekommen, weil sie zur Hilfe für die ČSSR aufgefordert worden waren. (Ein inszenierter Hilferuf von Altkommunisten sollte den Einmarsch rechtfertigen.) Dies veranlasste Alena Kovaříková zu einer mutigen Aktion: Sie stellte im Zentrum der Stadt einen Tisch auf und forderte die Passanten auf, sich in Listen einzutragen und damit ihren Protest gegen die Okkupation zu dokumentieren. „Die Zahl der Unterschriften war überwältigend. Sogar zwei Russinnen haben sich eingetragen, weil sie damit ihre Solidarität zeigen wollten.“ Es gab auch einige Leute, die vorbeiliefen: „Diese hatten es nur eilig, möglichst viel einzukaufen, denn es war in nächster Zeit mit Versorgungsmängeln zu rechnen.“ Das Paket mit den Unterschriftslisten wollte Alena Kovaříková an das Innenministerium in Prag schicken. Der Leiter des Postamts aber verweigerte die Zusendung.

Was in Prag tatsächlich geschah, wurde von den Medien verschwiegen. In Cheb konnte man sich darüber aus dem „Westfernsehen“ informieren. Deutschkenntnisse waren nach langer Zeit wieder wichtig. Das Theater wurde zu einem geheimen Versammlungsort: Nach der Vorstellung gingen nicht alle Besucher gleich nach Hause, denn jetzt berichteten Studenten, was in Prag passiert war, und sie konnten dann erfahren, was man in Cheb aus dem Fernsehen der BRD wusste.

Die Wiederherstellung der Bedingungen vor den Reformversuchen des Prager Frühlings bezeichnete man als „Normalisierung“. Es kam zu Verhaftungen und Entlassungen. Überall musste man mit der Anwesenheit von Spitzeln rechnen. Die beliebte Lehrerin Vlásta Č. hatte das Wort „Invasion“ ausgesprochen. Der Hausmeister verriet dies, und sie durfte die Schule nie mehr betreten. Als politisch vorbelastet kam für sie nur eine Beschäftigung als Hilfsarbeiterin in Frage.

Vielen erging es wie Lubomir M., der als „hartnäckiger Anhänger der Rechten und als Feind des Sozialismus“ bezeichnet und auf die Straße gesetzt wurde. So kamen „politisch zuverlässige“, oft aber völlig ungeeignete Leute in Führungspositionen.

Josef R. war damals Student: „Eine totale ‚Gehirnwäsche‘ hat für mich das Studium an der Karlsuniversität bedeutet. Bei den ideologischen Prüfungen bin ich durchgefallen.“

Gefürchtet waren die politischen „Befragungen“. Ein besonderes Druckmittel war, dass man bei kritischen Äußerungen nicht nur mit persönlichen Benachteiligungen zu rechnen hatte, sondern dass man auch den Kindern den Zugang zum Studium verweigerte.

Viele Menschen sahen als einzigen Ausweg die Emigration.

Die Sehnsucht nach Freiheit erschien nun endgültig als unerfüllbarer Traum.

Noch über 21 lange Jahre mussten die Menschen darauf warten, bis sie sich mit der „Samtenen Revolution“ (November 1989) vom Kommunismus befreien konnten.

Günther Juba

Fotos:

Straßensperren, die die Panzer nicht aufhalten konnten

Vor dem Rathaus, in russischer Sprache: „Lenin wach auf! Breschnew ist verrückt geworden“

„Anleitung, wie man sich gegenüber den Okkupanten benehmen soll“.

Inschrift auf der „Zeitachse“

Verantwortlich: Tourist-Information
Entstanden / aktualisiert: 13.8.2018 / 13.8.2018
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